Nicht nur in Zeiten von Krisen befürchten wir, dass unsere Zivilisation nur eine ganz dünne Schutzschicht sei, unter der die Barbarei lauert. Diese Vorstellung ist ein Grundpfeiler, auf dem unsere westliche Kultur baut.
Wir glauben, dass wir uns alle von der schlechtesten Seite zeigen werden, sowie irgendetwas Schlimmes geschieht. Sei es eine Naturkatastrophe, ein Krieg oder auch ein Virus wie jetzt.
Schon sollen wir unser animalisches Selbst entblößen und rücksichtslos aufeinander einprügeln. Gewinner sollen immer die Stärkeren sein. Die Hinterhältigen, die Brutalen, die Rücksichtslosen und diejenigen, die durch Hinterhältigkeit, Brutalität und Rücksichtslosigkeit die größten Reichtümer angesammelt haben.
Das ist die uralte Annahme unserer westlichen Geistesgeschichte, die sich bis zu den alten Griechen, den Gründern der christlichen Kirche und den Philosophen der Aufklärung zurückverfolgen lässt.
Und noch immer wird uns dieses Bild gelehrt, in den Medien fokussiert und von den politischen Parteien jeweils zu ihrem eigenen Nutzen verwendet.
Auf diesem Menschenbild baut auch das zentrale Dogma unseres gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaftssystems auf und wird sogar noch befeuert von Gegnern dieses Systems, die diese angeblich dünne Schutzschicht zum Einsturz bringen möchten, woraufhin sie selbst wie Phoenix aus der Asche aufsteigen und die Welt in ihrem eigenen Namen retten wollen.
Nur zu oft wird von der antikapitalistischen Linken das Zitat von Brecht kolportiert „Vor der Moral kommt das Essen“ und immer wieder wird dabei vergessen zu fragen, warum dann die Moral in unserem satten Land noch auf sich warten lässt. Um es mit Brecht zu sagen: „Denn nur, weil der Mensch vergessen kann, dass er ein Mensch ist, kommt das Essen vor der Moral.“
Ohne Zweifel ließ uns unsere Kultur das Menschsein vergessen.
Schon immer waren wir angenehme Zeitgenossen
Wissenschaftlich betrachtet ist das Bild dieser dünnen Zivilisations-Schutzschicht falsch. In den letzten 20 Jahren konnten wir alle verfolgen, wie Wissenschaftler*innen ganz verschiedener Richtungen – Soziologen, Psychologen, Anthropologen, Archäologen, Krisenforscher und andere mehr, ein sehr viel hoffnungsvolleres Bild des Menschen zeichnen. Schaut man sich die neuesten Fakten an, studiert in alten Aufzeichnungen auch privaten Schriftverkehr oder analysiert man die Ergebnisse neuer Experimente und hinterfragt die der historischen Tests, so gelangt man zweifelsfrei zu der Erkenntnis, dass die meisten Menschen ziemlich anständige Zeitgenossen waren und sind.
Es lauert kein Barbar in Gestalt des Nachbarn
Aktuell während der Coronakrise ist es sehr einfach zu sehen, wie selbstsüchtig sich manche Menschen verhalten. Doch wie immer liegt gerade in dieser Einfachheit das Problem.
Wir müssen nur den Fernseher einschalten oder einen Blick in die sozialen Netzwerke werfen, schon sehen wir Panikkäufe, Klopapier hortende Egoisten und sogar Menschen, die sich um ein vermeintlich letztes Stück Hefe prügeln.
Doch für jeden Panikkäufer gibt es abertausend Krankenschwestern und Pfleger, die bis zum Umfallen arbeiten. Für jeden Klopapier hortenden Menschen gibt es Tausende, die sich über die sozialen Netzwerke und WhatsApp-Gruppen Gruppen voller Hilfsbereitschaft organisieren. Für jeden, der sich um das letzte Stück Hefe prügelt, gibt es tausende, die einen beträchtlichen Teil ihrer Ersparnisse spenden oder Atemschutzmasken nähen.
So viele tausend Menschen können die Medien jedoch kaum zeigen. Sie können nur erwähnt werden. Die schockierenden Bilder bleiben jedoch in unseren Köpfen haften. Dabei gibt es eine wirklich beeindruckende Zusammenarbeit und Uneigennützigkeit, die sich innerhalb kürzester Zeit explosionsartig gesteigert hat.
Dies ist absolut kein neuer Effekt. Selbst aus Katastrophen in der Antike und aus der Neuzeit vom Großbrand in San Francisco, über die verheerenden Auswirkungen von Katrina in New Orleans bis hin zur Überschwemmung der Oder können die gleichen Schlüsse gezogen werden: Der Mensch ist sozial, solidarisch und verantwortungsbewusst. Er benötigt keine zivilisatorische Schutzschicht, die ihn vor seinem eigenen inneren Barbaren rettet. Und es lauert auch kein Barbar in Gestalt seines Nachbarn.
Dogmatisch bis zur Selbstoptimierung
Wenn wir die jetzige Corona-Krise unter ökonomischen Aspekten betrachten, dann ist sie größer als der Finanzcrash im Jahr 2008. Damals haben wir es verpasst, uns in ein neues Zeitalter der Solidarität und Zusammenarbeit zu befördern. 2008 wäre eine hervorragende Möglichkeit gewesen, ein Bedingungsloses Grundeinkommen einzuführen.
Seit den 1970ern haben wir den Aufstieg des Neoliberalismus erlebt. Das alles bestimmende Dogma dieses Neoliberalismus ist, dass der Mensch egoistisch, geizig und selbstverliebt ist. Aus diesem Grund haben wir unsere Institutionen, unsere Schulen, Arbeitsplätze, unsere Vereine und sogar unsere Demokratie darauf eingerichtet. Sogar wir selbst beugen uns diesem Dogma in Selbstoptimierung. Keine Regierungspartei hätte überhaupt ein Parteiprogramm, wenn sie sich nicht diesem Dogma untergeordnet hätte.
Die Parteien im eher konservativen rechten Spektrum könnten den vorausgesetzten Egoismus ihrer Wähler nicht mehr umschmeicheln, die eher konservativen linken Parteien nicht mehr mit dem Egoismus des feindlichen Lagers drohen, das es zu eliminieren gilt. Regierungen werden in diesem Spiel immer unwichtiger.
Gemeinsamkeit ist stärker
Doch jetzt während der Pandemie wächst bei uns die Erkenntnis, dass wir nicht nur vereint handeln müssen, sondern auch können. Wir wollen eine Zusammenarbeit in gewaltigem Ausmaß, eine globale Zusammenarbeit. Und wir spüren, dass wir es können.
Diese Krise bietet die große Chance, ein Ende der Ära des neoliberalen Institutionalismus mit ihrem Funktionalismus und Utilitarismus einzuläuten. Und das neue wissenschaftliche Bild des Menschen trägt sehr viel dazu bei. Wir werden uns nicht mehr als egoistische Narzissten betrachten, sondern als ganz schön anständig ansehen.
Das meiste dient einer guten Zukunft
Auch wenn dass Internet zur Zeit von Hass und Fake News zu überquellen droht, leistet es auch sehr viel Positives. Wir sehen, wie schnell sich Wissen verbreitet, wie schnell und einfach Menschen via Internet Nachrichten verbreiten können, dass man vorsichtig sein und Abstand halten soll, dass nach dem Befinden gefragt wird und Tipps gegeben werden. Stellt man das Negative dem Positiven gegenüber, ist das Ergebnis noch immer erfreulich. Die überwiegende Mehrheit aller über das Internet verbreiteten Botschaften dient einer guten Zukunft.
Das gilt auch dann, wenn uns negative Nachrichten stärker beeinflussen. Denn diese Nachrichten ärgern uns und können eine Gefahr bedeuten. Wir sollten uns also immer des Negativitätseffekts bewusst sein. Alles Schlechte wirkt sich psychisch stärker aus. So funktioniert unser Gehirn nun einmal. Aber es lässt sich leicht beruhigen und die Realität erkennen lassen. Hinter einem Menschen ohne Mundschutz, stehen tausende mit Mundschutz.
Mit dem Bedingungslosen Grundeinkommen fängt es an
Selbstverständlich können wir heute noch nicht sagen, was diese Krise bewirkt. Aber sie stellt den Status Quo infrage. Das heißt natürlich nicht, dass wir uns auf das Schlaraffenland oder das Paradies zubewegen. Aber sie ist die Chance für politische Veränderungen. Ein Bedingungsloses Grundeinkommen wäre zumindest der Beginn einer Zeit voller Kreativität, Unternehmergeist, Erfindungsgabe und Produktivität zugunsten von Klima, Bildung, Gesundheit und Frieden. Gemeinsam können wir das schaffen.